Dr. Edith Breburda
Veröffentlicht in: Christliches Forum, 28.7.2016
Die ökonomische
Lage in Venezuela verschlechtert sich zunehmend. Leute stehen geduldig in
größter Hitze vor einem Laden. Unfreiwillig wurden sie Zeugen, wie ein Mann mit
einer Pistole einen Jungen Namens Pererz bedroht, damit dieser sein Handy
hergebe. Perez ergreift die Flucht. Doch bevor er den Eingang zur Drogerie
erreicht hat, strecken ihn acht Schüsse nieder. Er fällt zu Boden. Blut tropft
auf den Asphalt. Die Leute in der Schlange scheinen ungerührt und hoffen, ihre Drogerieartikel
zu erhalten.
„Um zu überleben,
sind wir darauf angewiesen, zu warten. Alles andere ist zweitrangig. Du musst
sicherstellen, dass du das, was du brauchst, bekommst. Alles andere darf dich
nicht irritieren. Mitleid ist hier fehl am Platz“, sagt der Drogist Heide
Mendoza.
Die
Warteschlangen vor den Läden sind in Venezuela nicht nur länger, sondern auch
gefährlicher geworden. Es ist der einzige Lebensinhalt -und immer öfter endet er tödlich.
Mehr als zwei
Dutzend Leute und ein kleines Mädchen sind in den letzten 12 Monaten vor den
Geschäften umgekommen. Eine 80-jährige Frau wurde zu Tode getrampelt, als ihre Mitmenschen
anfingen, den Laden vor ihr zu stürmen. Immer öfters kann so etwas nun
passieren, weil in Venezuela die lebensnotwendigsten Dinge fehlen.
Die Ökonomie des
Landes kann sich mittlerweile in der Länge der Warteschlangen vor den Läden des
Landes messen. Im Durchschnitt steht man 35 Stunden in der Woche an. Das ist
dreimal länger als noch vor zwei Jahren.
Nachdem die
Ökonomie zusammenbrach, schlagen sich die Leute regelrecht um die alltäglichen
Dinge. Konflikte, Kämpfe und auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein, sind
da vorprogrammiert. Venezuelas Ölvorkommen sind schon lange verbraucht.
Die
Misswirtschaft der Sozialisten führte dazu, dass das Land selber nichts mehr
produzierte und mehr importieren musste. Die Versorgung brach langsam zusammen.
Bald war kein Geld für die einfachsten Dinge mehr da. Politiker sorgen sich heute
mehr über die Lebensmittelknappheit als über die Sicherheit des Landes. Das
erstaunt, weil Venezuela ein Land mit der größten Selbstmordrate ist.
Verzweiflung
facht die Gewalt auf den Straßen an. Die Medizinstudentin
Maria Sanchez hat den gleichen gelangweilten Blick in ihren Augen wie alle
anderen hier. Als sich jedoch eine Frau vordrängeln wollte, schlug sie auf
diese ein, bis sie schließlich davonhumpelte. Den Rest der Wartezeit presste
Sanchez ihre Lippen zusammen, während ihre Mutter leise neben ihr weinte: „Wenn
Du auf die Straße gehst, musst du voller Energie sein, damit du nicht von
anderen hereingelegt oder betrogen wirst. Die Not hat ein
schreckliches Gesicht“, sagt sie.
Keiner ist von
dem Engpass verschont. Selbst in den wohlhabendsten Vierteln von Caracas stehen
die Einwohner mit ihren 20 Liter-Kanistern in einer langen Schlange und hoffen,
dass der Wasserlaster vorbeikommt.
Die ärmere
Bevölkerung muss zum Fuß eines Berges gehen. Dort streiten sie sich um das
Quellwasser. An automatischen Geldmaschinen bekommt man unter der Woche
umgerechnet 8 Euros pro Tag. Die Warteschlangen werden besonders am Freitag
sehr lange.
In Venezuela vermeidet
man es, bar zu zahlen. In den kleinen Läden kann man nur noch eine Kreditkarte benutzen.
Jede Nacht stehen Kunden vor Autowerkstätten an, um eine der wertvollen
Autobatterien zu ersteigern, die am anderen Morgen, kurz nach Eröffnung, nicht
mehr zu bekommen sind.
Alle Einwohner
des Landes, auch Kinder, wissen aufgrund ihrer Passnummer, wann und wo sie
bestimmte Dinge kaufen dürfen. Schon lange bevor die Geschäfte öffnen, gehen
Gerüchte herum, wo es die beste, stets zugeteilte Ware gibt.
Einige fälschen
ihre Pässe, um zusätzliche Güter zu erhalten. Schwangere und
alte Leute werden beim Warten bevorzugt. Dennoch stehen jedem nur zwei Dinge zu.
Am längsten steht man für das an, was am knappsten ist: -Lebensmittel.
Eine Studie der
Simon Bolivar Universität berichtet, dass neun von zehn Menschen nicht genug Nahrungsmittel
kaufen können.
Die Preise
schossen in die Höhe. Schuld daran ist die Angst, leer auszugehen. Dass der
Schwarzmarkt unter den Bedingungen floriert, erklärt sich von alleine. Denn es
kommt trotzdem vor, dass einige Lebensmittel horten.
Die Wartenden
lassen sich nicht irritieren. Nie wissen sie, was sie bekommen werden, wenn sie
endlich an der Reihe sind. Wenn die Lebensmittel-Transporter ankommen, öffnen
die Läden sehr pathetisch ihre Türen, damit die Wartenden sehen, was es heute
zu kaufen gibt. Manchmal kann man nur noch Hundefutter bekommen.
Und wenn die
Enttäuschung dann zu groß ist, um sie ertragen zu können, dann stürmen die
Bürger Venezuelas einfach den Laden, so wie das Hunderte im Juni 2016 taten. „Wir verhungern“,
rechtfertigte einer die Aktion. Der Lebensmitteltransporter war schon lange
wieder weg, und die Türen wurden einfach zu zögerlich geöffnet. Soldaten
bewachen die Ausgabe der Lebensmittel. Sie zögern keinesfalls, Tränengas zu
benutzen. So sind bereits drei Leute vom Militär erschossen - und Hunderte
verhaftet worden.
Nicht weit von
der Stelle, wo Perez erschossen wurde, verbrannte der aufgebrachte „Mob“ einen
Dieb. Nachdem der Verletzte fortgebracht wurde, gesellte sich derjenige, der
das Feuer gelegt hatte, seelenruhig zu den Wartenden.
Auch wenn Gewalt
in der Luft liegt, passieren in so einer Schlang auch ganz gewöhnliche Dinge. So
hat Merlis Moreno vor einem Hühnchenladen ihre Tochter geboren. Die 21-Jährige
merkte, dass sie ihre Wehen bekam, als sie bei glühender Hitze in den Stadtbus
von El Tigre einstieg. Sie hatte keine
andere Wahl, als trotzdem einkaufen zu gehen, weil sie nichts mehr zu essen
hatte.
Der Hausmeister
des Supermarktes half ihr, das Kind zu entbinden. Ein alter Lumpen, den sie
fanden, diente als Windel.
In der Schlange für Toilettenpapier sangen die
wartenden Kinderlieder, als sie Zeugen wurden, wie ein kleiner Junge laufen
lernte. Kinder machen ihre Hausaufgaben, und junge Männer nutzen die langen
Stunden, um junge Frauen kennen zu lernen, auch ohne Onlinedating.
Sasha Ramos hat die
Beziehung zu ihrem Freund in der Warteschlange für Rasierklingen abgebrochen.
Es war ihr sehr peinlich, so viele Zeugen zu haben. Sie hatte sich bei ihm
beschwert, dass sie die ganzen Einkäufe erledigen müsse. Er stürmte wutentbrannt
davon, und sie stand alleine in der Schlange und stierte vor Scham in den
Boden.
„Er war so
rücksichtslos. Ich hätte ihm ja fast vergeben. Dieses ewige Warten ist nicht
gut für die Liebe“, sagt Ramos.
Für ältere Leute
ist das tägliche Einkaufen eine große Qual. Irama Carrero mustert die Leute,
die in dem gehobenen Viertel von Karakas vor ihr stehen. Dann wurde ihr Blick
starr, und sie fiel nach hinten. Keiner versuchte, sie aufzufangen. Als sie
wieder zu sich kam, musste sie sich übergeben. Keiner verließ seinen Platz. Nur
ein junger Mann erbarmte sich, die alte Dame in die Notaufnahme zu bringen. Im
Taxi beichtete sie ihrem Retter, dass sie seit gestern nichts mehr zu essen
hatte.
Die Schlangen
bezeugen, wie arm die Bevölkerung geworden ist. Kaum einer hat mehr Zeit zum
Arbeiten. Das Durchschnittsgehalt liegt sowieso nur bei 15 Euro, und die
Inflation hat sich verdreifacht. Es zahlt sich nicht aus, arbeiten zu gehen.
Die Felder sind nicht bewirtschaftet, und Lehrer verlassen das Klassenzimmer,
um einkaufen zu gehen.
Selbst
Regierungsbeamte sind am Nachmittag nicht mehr in ihrem Büro, denn auch sie
müssen einkaufen gehen. „Die meisten Leute verdienen mehr Geld an der
chaotischen Situation“, sagt David Smilde, der Venezuela Experte in Washington/USA.
Man hat die
Warteschlangen in ein Business verwandelt. Maria Luz Marcano verleiht Plastik-Stühle
und aufgeladenen Handys. Man kann bei ihrem improvisierten Concierge-Stand
seine Tasche abgeben. Sie verdient mehr als in ihrem alten Job. „Ich liebe es,
eine unabhängige Berufstätige zu sein“, sagt Marcano.
Aus: Hanna Dreier,
Beleaguered Venezuelans spend all day in line. Wisconsin State Journal,
Saturday July 16th. 2016